Imbolc - Das Lied der Erde - Geschichte

Veröffentlicht am 1. Februar 2025 um 13:48

 

Das Lied der Erde

 

Tief unter der kalten Erde, wo Wurzeln noch schliefen und das Wasser in gefrorenen Adern ruhte, regte sich etwas. Kein lauter Ruf, kein helles Auflodern – nur ein leises, kaum hörbares Flüstern. Ein Versprechen.

 

Im Dorf aber herrschte Stille. Die Menschen hüllten sich in ihre wärmsten Decken, saßen in ihren Hütten beisammen und blickten hinaus auf die noch verschneiten Felder. Sie seufzten. Der Winter war lang, und die Hoffnung auf den Frühling schien fern.

 

Doch in einer kleinen, warmen Stube am Rande des Dorfes zündete das Mütterchen eine Kerze an und rief die Menschen zu sich. Sie war für viele wie eine Großmutter – mit Händen, die nach Kräutern dufteten, und Augen, die so viel Wärme trugen, dass es schien, als könnte ihr Blick den Schnee zum Schmelzen bringen.

 

Als alle um das Feuer versammelt waren, sah sie sie liebevoll an. „Ihr sehnt euch nach dem Frühling, nicht wahr?“

 

Die Menschen nickten. „Doch er lässt auf sich warten,“ seufzte ein junger Mann.

 

Das Mütterchen lächelte. „Ach, ihr Lieben,“ sagte sie sanft. „Der Frühling wartet nicht. Er beginnt bereits – tief in der Erde, wo ihr ihn nicht sehen könnt. Und genau so ist es mit allem, was wachsen soll. Es beginnt nicht erst, wenn ihr es sehen könnt. Es beginnt, wenn ihr es vorbereitet.“

 

Die Menschen schwiegen und lauschten ihren Worten.

 

„Ihr glaubt, jetzt sei die Zeit des Wartens. Aber nein, jetzt ist die Zeit des Wirkens – im Stillen, im Kleinen. So wie die Erde heimlich das Wasser sammelt und die Samen im Dunkeln Kraft schöpfen, so müsst auch ihr euch vorbereiten. Was wollt ihr wachsen lassen, wenn die warme Zeit kommt? Welche Träume habt ihr? Welche Pläne ruhten zu lange in euren Herzen?“

 

Ein Mädchen sah sie fragend an. „Aber wie können wir etwas tun, wenn die Erde noch schläft?“

 

Das Mütterchen nahm die Hand des Mädchens in ihre eigene und drückte sie sanft. „Indem ihr beginnt, auch wenn ihr das Ende noch nicht sehen könnt. Räumt eure Stuben auf, webt eure Tücher, flickt eure Kleidung. Redet über das, was euch bewegt. Singt wieder Lieder. Bereitet euch auf das vor, was ihr euch wünscht. Denn wenn der Frühling kommt, wird alles, was ihr jetzt sät – sei es in der Erde oder in euren Herzen – wachsen.“

 

Die Menschen sahen einander an, und in ihren Augen begann etwas zu leuchten – ein Funke von Verstehen, von Hoffnung.

 

In den kommenden Tagen begannen sie, ihre Häuser und Höfe zu reinigen, nicht nur von Staub und Winterresten, sondern auch von alten Sorgen und Zweifeln. Sie nähten und flickten, sprachen über ihre Pläne und sangen abends Lieder am Feuer.

 

Und als eines Morgens die ersten Tropfen von geschmolzenem Eis vom Dach rannen, wussten sie: Die Erde hatte sie gehört. Und sie waren bereit für das, was kommen mochte.

 

So lehrte Imbolc sie, dass der Frühling nicht mit dem ersten Blütenblatt beginnt – sondern mit einem Gedanken, einem Lied, einer ersten Tat. Und dass das Leben immer dann erwacht, wenn man ihm den Raum gibt, zu wachsen.


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